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Tuesday, April 17, 2012

Die Sucht aufs Essen. Warum wir dick werden obwohl wir es nicht wollen.

Unser Essverhalten wird weniger vom freien Willen und der Vernunft gesteuert, als vielmehr von autonomen Mechanismen. Den Verhaltensforschern sind sie bekannt. Den Akteuren unseres Gesundheitswesens sind sie ein Dorn im Auge. Ein Dorn, der sie mit einer selektiven Blindheit geschlagen hat für...

Die Sucht aufs Essen

Neurohormonale Mechanismen treiben den Drogensüchtigen zu seiner Droge, obwohl er die Konsequenzen seines Verhaltens kennt und fürchtet. Den Verhaltensbiologen sind diese Mechanismen seit einigen Jahren bekannt. Und auch dass Zucker dieselben Hirnzentren und Mechanismen aktiviert. Evolutionsbiologisch wichtige Mechanismen, wie wir heute wissen. Denn die Lust auf Süßes trieb unsere Urahnen zu der einzigen Nahrung, die diese Lust befriedigte: Obst und Früchte. Diese Lust war aus zwei Gründen wichtig: erstens sind unsere Speicher für Kohlehydrate, anders als die fürs Fett, sehr klein und innerhalb von spätestens 48 Stunden aufgezehrt. Zweitens liefern Obst und Früchte lebenswichtige Mikronährstoffe. Ganz im Gegensatz zu jenen Colas, Kuchen und Keksen, mit denen wir die Lust auf Süßes heute befriedigen. Für diese Lust sollten wir uns also nicht deshalb schämen, weil wir sie erst mit der Erforschung eines moralisch verpönten Verhaltens, der Drogensucht, entschlüsselt haben. Das erklärt, warum die Nahrungsmittelindustrie Zucker in allen möglichen Nahrungsmitteln versteckt, in denen wir ihn nicht vermuten. So wie die Zigarettenindustrie  ihre Tabake mit zusätzlichem Nikotin anreichert, einem der stärksten Suchtmittel überhaupt. Die Konsequenz dieser Sucht auf's Essen ist das Übergewicht. Womit wir beim zweiten Grund für das Scheitern des Abnehmens sind:

Entgleiste Hormone

Wer lange genug zu viel isst und sich zuwenig bewegt, verwandelt nicht nur seine Figur sondern auch seinen Organismus. Gemeint ist damit jene komplexe neurohormonale Vernetzung von Verdauungsapparat, Fettgewebe, Muskelzellen und jenen Hirnzentren, die Appetit, Sättigung und den Drang auf Bewegung regeln. Wer nach einem Essen, das eine vierköpfige Familie in Bangladesh ernährt hätte, der Lust auf ein Tiramisu nicht widerstehen kann, hat das auch diesem neurohormonalen Netzwerk zu verdanken. Es ist resistent geworden gegen Sättigungssignale. Wenig hilfreich ist auch, dass der Anblick des Tiramisu einen Verhaltensreflex auslöst, den wir von Boris Becker in der Besenkammer kennen. Erst mal vernaschen, bereuen kommt später. Verhaltenswissenschaftler nennen dieses Phänomen...

Hyperbolic discounting

Discounting heißt Abzinsung. Was der Verhaltensforscher darunter versteht, ist die Art, wie unser Gehirn intuitiv den Gegenwartswert eines erwarteten zukünftigen Nutzens ermittelt. Vor die Wahl gestellt, entweder 120 Euro in 6 Monaten geschenkt zu bekommen oder 100 Euro in 5 Monaten, entscheiden sich die meisten Menschen für die 120 Euro. Was aber, wenn ich Ihnen 100 Euro jetzt bar auf die Hand biete oder 120 Euro in einem Monat? Die meisten Probanden ziehen die sofort verfügbaren 100 Euro vor. In beiden Fällen ist die Differenz die Gleiche, nur Sie bewerten sie intuitiv anders. Dieser Effekt ist mit dem Wörtchen "hyperbolisch" beschrieben, einer mathematischen Formel die sich von der exponentiellen Form der Abzinsung unterscheidet, auf der wir unser Banken- und Wirtschaftssystem aufgebaut haben.
Dank der hyperbolischen Abzinsung greifen Sie morgen doch wieder zum Tiramisu, obwohl Sie heute Stein und Bein schwören, dass Ihnen der Gesundheitsgewinn in der ferneren Zukunft wirklich mehr wert sei als der Lustgewinn nach dem Mittagessen morgen. Und genauso funktioniert nicht nur das menschliche Gehirn sondern auch das von Tauben, Mäusen und Affen. Das zeigt, im Laufe der Evolution muss sich die hyperbolische Abzinsung als wirksames Werkzeug fürs Überleben bewährt haben. Andernfalls hätte Mutter Natur es nicht über Millionen Jahre in die Hirne ihrer Spezies programmiert. Heute müssen wir mit diesem Erbe in einer Umwelt zurechtkommen, deren Gestaltung wir Mutter Natur aus der Hand genommen haben. 
Dem Aberglauben an die Vernunft und den freien Willen als Treiber unseres Ess- und Bewegungsverhaltens hätten diese Erkenntnisse schon seit mehr als 10 Jahren den Wind aus den Segeln nehmen müssen. Haben sie aber nicht. Wohl weil es einfacher ist, den Dicken und chronisch Kranken die Schuld für ihren Zustand zu geben, als sich zu fragen, wie das Produktions- und Werbeverhalten einer Nahrungsmittelindustrie, von Nestle bis zu MacDonalds, zu reglementieren sei.
Und wie kann ich nun behaupten, dass das Zeitalter der chronischen Gesundheit greifbar ist?
Aus drei Gründen: weil sich die Börsen für das Thema zu interessieren beginnen, weil wir unser Hirn überlisten können, und weil wir die notwendigen Werkzeuge aus den Gesundheitswissenschaften haben. 
Dazu mehr im nächsten Beitrag. Und falls es Ihnen bis dahin langweilig werden sollte, können Sie ja schon mal einen Blick auf unser Navi zur chronischen Gesundheit werfen.  

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